1 Und ich sah in (bei) der Rechten dessen, der auf dem Thron sass, eine Buchrolle, inwendig und auf der Rückseite beschrieben, versiegelt mit sieben Siegeln.
2 Und ich sah einen starken Engel, der mit lauter Stimme rief: Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu lösen?
3 Und niemand im Himmel oder auf der Erde oder unter der Erde vermochte das Buch zu öffnen und hineinzuschauen.
4 Und ich weinte sehr, weil niemand zu finden war, der würdig gewesen wäre, das Buch zu öffnen und hineinzuschauen.
5 Und einer von den Ältesten sagt zu mir: Weine nicht! Siehe, den Sieg errungen hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Spross Davids; er kann das Buch und seine sieben Siegel öffnen.
(Offb. 5,1-5)
Liebe Gemeinde,
Wahrlich, es sind schwere, ja bedrückende Worte gerade jetzt im Advent. Gott hält Gericht über die Welt und es gibt niemanden, der fähig wäre, das Buch mit den sieben Siegel zu öffnen. Das Buch, in dem alles geschrieben ist, scheint für immer geschlossen zu sein. Der Seher, der dies niedergeschrieben hat, ist völlig verzweifelt. So soll es nicht sein. So darf es doch nicht sein- denkt er sich vielleicht; und siehe, da geschieht es dann, dass die Hoffnung aufleuchtet: es gibt einen Sieger, der fähig und auch willens ist, die Siegel des Buches zu öffnen. Was kann man heute mit dieser Vision anfangen? So frage ich mich und es werden vielleicht auch einige von Ihnen ähnlich fragen. Die Welt, für die diese Worte des Bibeltextes verfasst worden waren, liegt für uns in ganz weiter Ferne. Die Vision des Weltuntergangs ist für uns auch nicht gerade ein Bild, das wir gerne vor Augen halten. Was soll also im Advent dieser Text?
Um unserem Bibeltext näher zu kommen, sollten wir vielleicht ganz klein anfangen bei den elementaren Sachen, und zwar damit, was Advent eigentlich bedeutet. Man feiert heute Advent als eine Zeit, während der man sich auf das grosse Fest von Weihnachten vorbereitet. Die kommerziellen Möglichkeiten dieser besonderen Zeit haben die Geschäftsleute schon längst entdeckt. Langsam scheint dies die Zeit vor Weihnachten zu beherrschen: möglichst viel und möglichst rechtzeitig einzukaufen. Nun, Advent ist eigentlich etwas Anderes: es geht darum, dass der Mensch sich innerlich auf das kommende Fest vorbereiten soll, darauf, dass die Menschheit bedenkt: Gott hat uns Menschen ein grosses Geschenk gegeben. Und genau um dieses Geschenk Gottes geht es ja in unserem Bibeltext heute.
Die Bilder scheinen fremd oder gar erschreckend, aber die Sache, die Botschaft ist uns Christen bekannt: Gott will den Menschen befreien und beschenken. Dafür gibt er den Menschen das Geschenk der Freiheit. Darauf zu warten lohnt sich.
Der, der das Buch der Geschichte öffnen kann, ist kein anderer als der Sohn Gottes. In den darauffolgenden Versen der Offenbarung wird er als Lamm dargestellt. Es ist eine seltsame Konstruktion: ein Lamm, das zugleich auch Löwe sein soll, ein Verlierer, der zugleich auch Sieger ist. Doch genau das ist es, was das Besondere an Advent bedeutet: wir Menschen haben mit einem Gott zu tun, der auch dazu fähig gewesen ist in seiner Liebe, dass er des Menschen verletzliches Leben auf sich genommen hat. Dafür steht das Bild des Lammes. Dieser Gott aber lässt sich von den so stark erscheinenden Mächten besiegen, aber er ist und bleibt Sieger. Dafür steht das Bild des Löwen, eines Tieres, das im Alten Orient als Symbol von königlicher Herrschaft galt und zugleich auch als Symbol Kraft und Sieg bedeutete.
Der Mensch, der mit den diversen Ereignissen der Geschichte konfrontiert wird, kann bisweilen sogar verzweifeln, so wie der Schreiber der Offenbarungen. Dann sieht man keinen Ausweg. Es scheint niemand da zu sein, der in der sinnlos scheinenden Welt Orientierung und Trost geben könnte. Dafür steht das mit sieben Siegeln geschlossene Buch der Geschichte und der weinende Schreiber der Offenbarungen. Doch, genau in dem Moment als der Mensch in eine solche Grenzsituation kommt, greift Gott ein. Er versichert den Menschen seine Gegenwart, ja seine Treue. Dafür steht in unserem Bibeltext der starke Engel.
Ich bleibe nun bei diesem Bild stehen. Gottes starker Engel verspricht Erklärung, Trost und Orientierung. Was für ein schönes Bild und was für eine Sehnsucht, die daraus spricht. Man möchte klar sehen, wissen, entscheiden können. Doch, es ist nicht einfach. Man kommt oft nur bis zum ratlosen Weinen. Nun weint vielleicht der heutige Mensch nicht, auch wenn uns manchmal danach zumute ist. Ebenso wenig sehen wir Engel in unserer Welt. Liegt es vielleicht daran, dass wir nicht richtig hinschauen, hinhören? Gewiss, in der Zeit vor Weihnachten sieht man überall Engelsgestalten. Meist sind es kleine, niedliche Figuren mit Flügeln, oft dargestellt mit einem Buch oder einem Musikinstrument. Solche Abbildungen sehen wir mehr als genug, aber Engel, wirkliche Engel?
Ich denke, indem wir die Engel mit solchen Bildern identifizieren, suchen wir sie an falscher Stelle. In der Bibel hören wir nämlich gar nichts davon, wie die Engel denn auszusehen haben. Und dies mit gutem Recht. Die Engel sind nämlich nur Gesandte Gottes. Ihre Person muss hinter der Botschaft, die sie verkündigen, zurücktreten. Suchen wir also in dieser Adventszeit unsern tröstenden Engel als eine kleine, niedliche, fliegende Figur, so suchen wir ihn an falscher Stelle. Man sollte vielleicht die Augen besser dafür öffnen, mit welch einer Vielfalt uns die Botschaft von Gottes Treue und Güte begegnet. Durch Menschen, die in unserer Umgebung sind, will uns Gott erreichen. Es sind Menschen, die genauso Menschen sind wie wir alle, die aber in einer bestimmten Situation für einen anderen Menschen ein Engel sein können. Dies wahrzunehmen, dies bewusst hinzunehmen, ist eine Möglichkeit für uns auch in diese Adventszeit. Möge Gott uns dazu verhelfen, dass wir auch in dieser Adventszeit mit lauschenden Ohren zwischen unseren Mitmenschen wandeln, mit sehenden Augen suchend nach der Botschaft, die auch uns verspricht: «den Sieg errungen hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Spross Davids; er kann das Buch und seine sieben Siegel öffnen.» Amen