Irrsal und Wirrsal, oder Gottes ordnende Kraft?

/Predigt gehalten in der Kirche Strengelbach am 06. 07.2025/

[1] Am Anfang erschuf Gott Himmel und Erde.

[2] Die Erde war wüst und leer,

und Finsternis lag über dem Urmeer.

Über dem Wasser schwebte Gottes Geist.

/Gen 1, 1-2/         

Liebe Gemeinde,

Es gibt bestimmte Bibelstellen, von denen wir meinen, sie so gut zu kennen, dass wir der Meinung sind, sie würden uns nichts – aber rein gar nichts – Neues mehr sagen. Für Theologen gehören die ersten Verse der Thora dazu. Man kennt sie, möglicherweise auch auswendig, aber man macht sich im Allgemeinen keine Gedanken darüber, was sie eigentlich bedeuten. Im Zusammenhang unserer Predigtreihe hörten wir nun die ersten zwei Verse aus dem Buch Genesis, in denen es um die Erschaffung der Welt geht. Wir wollen uns in unserer Reihe diesmal mit dem Begriff und der Bedeutung der Wüste beschäftigen. Doch: Geht es hier wirklich darum? Und wenn ja – was können uns diese altbekannten Verse als Hinweis für unser Leben liefern?

Betrachtet man die eben gehörten Bibelverse, so scheint alles eindeutig zu sein: „Am Anfang erschuf Gott Himmel und Erde…“ Doch schon hier fangen die Schwierigkeiten an. Betrachten wir den Originaltext, gibt uns die grammatikalische Form ein Rätsel auf: Ist es, wie wir gehört haben, tatsächlich „Am Anfang“, oder könnte es sein, dass diejenigen Recht haben, die den Satz so verstehen, dass dies den Beginn andeuten soll – im Sinne von: „Als Gott Himmel und Erde erschuf…“ Schon dieser erste Satz gibt uns also reichlich Material zum Nachdenken – wenn wir es uns mit der Auslegung nicht zu einfach machen wollen.

Doch bevor wir uns – zugegeben – in interessante dogmatische Diskussionen verlieren, müssen wir uns der Frage widmen: Was ist der Schöpfungsbericht im Buch Genesis überhaupt? Ist es ein Bericht im Sinne einer Berichterstattung, wie die Kreationisten meinen – sieben Tage sind sieben Tage, und es geschah genau so, wie beschrieben? Oder ist es etwas anderes? Und wenn ja, was genau ist es dann?

Ich meine: Wenn wir den Bericht von der Erschaffung der Welt verstehen wollen, so sollten wir davon ausgehen, dass es einen bestimmten Sinn hat, dass diese Zeilen am Anfang der Bibel stehen. Für mich scheint es stimmig zu sein, diese Worte als ein Bekenntnis zu lesen. Betrachtet man die sprachlichen Formen, so deuten sie durch ihre Komposition und ihren Sprachduktus darauf hin, dass es sich beim Schöpfungsbericht in der Genesis um ein Bekenntnis handelt. Kein Bericht über die Schöpfung – sondern eine Erklärung. Ein Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer? Auch das. Aber dieses Bekenntnis hat im ersten Satz, den wir heute als Predigttext gehört haben, eine besondere Note.

Wenn man im Hebräischen das Verb „erschaffen“ näher betrachtet, kann man entdecken, dass es mit einem Wort verwandt ist, das auch mit „Kopf“ übersetzt werden kann. Von hier aus ist es nicht schwer, zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass sich dieses Bekenntnis auf Gott als ordnende Vernunft bezieht. Gott, der am Anfang der Welt als Schöpfer auftritt, wird also in unserem Bekenntnis als ordnende Vernunft beschrieben. Übrigens: Das hier verwendete Wort für den Schöpferakt Gottes wird in der Bibel ausschließlich im Zusammenhang mit Gott verwendet. Das, was wir als menschlichen Schöpferakt bezeichnen, unterscheidet sich also deutlich von dem, was Gott mit seiner ordnenden Vernunft tut.

So gesehen sperrt sich dieses Bekenntnis gegen allerlei Versuche, es zu vereinfachen oder zu trivialisieren. Gottes schöpferischer Akt ist einmalig und kann nur als Voraussetzung der Schöpfung betrachtet werden.

Ich denke, wenn dies geklärt ist, können wir ein Stück weit auch verstehen, warum diese Verse so wichtig sind. Sie machen deutlich: Alles Sein in der Welt ist von Gottes Sein abhängig. Wenn wir das klar erkennen, bekommt der zweite Satz unseres Predigttextes ein ganz besonderes Gewicht.

Wie ist denn der Zustand der Welt, als Gott sich an die Schöpfung macht? Können wir überhaupt von Welt und Gott als gegeneinanderstehende Größen sprechen? Ich denke, dass uns hier die jüdische Theologie weiterhelfen kann. Dort wird die These vertreten, dass Gott am Anfang alles in allem war und das Ganze erfüllte. Um Platz für seine Schöpfung zu machen, zog sich Gott ein Stück weit zurück – umfasste aber dennoch weiterhin das Ganze. So gesehen konnte in diesem entstandenen Raum etwas Neues entstehen.

In unserem Predigttext lesen wir, dass die Erde „wüst und leer“ war. Doch was können wir damit anfangen? Martin Buber übersetzte diesen Satz mit der von ihm geschaffenen Wendung, dass die Erde „Irrsal und Wirrsal“ war. Eine schöne Umschreibung der Umstände, die hier gemeint sind: Es geht um einen Zustand, in dem keine Ordnung, sondern pures Chaos herrscht. Und Gottes Geist schwebte über diesem Chaos. Die Ordnungskategorien von Raum und Zeit, von oben und unten, von Tag und Nacht fehlen. Es ist ein bedrohlicher Zustand.

Genau das ist der Punkt, an dem Gottes schöpferische Kraft zu wirken beginnt. Aus dem „Irrsal und Wirrsal“, aus dem Nichts, aus der Leere und Wüste wird eine Erde mit klar definierten Strukturen – mit Ordnungsprinzipien wie Raum und Zeit. Gottes schöpferische Kraft macht es möglich, dass aus diesem Zustand ein Lebensraum entstehen kann. Das verdient es festgehalten zu werden.

Betrachten wir die verwandten Sprachen des Alten Testaments, so wird deutlich, dass der hier verwendete Begriff „Tohuwabohu“ eindeutig und überall als Bedrohung verstanden wurde. Der Zustand, in dem keine ordnenden Prinzipien mehr gelten, war für die Menschen damals eine große existentielle Bedrohung – und das ist auch heute noch so. Wenn das tragende Fundament fehlt, kann die Welt nicht bestehen. Deshalb braucht es Gottes Eingreifen, damit aus dem bedrohlichen Chaos, aus der Wüste, etwas Neues, Lebensförderndes entstehen kann.

Ich denke, genau das ist der Punkt, an dem diese alte Geschichte auch unser Leben als moderne Menschen betrifft. Es geht darum zu erkennen, was Gottes schöpferische Kraft bedeuten kann. In unserem Predigttext haben wir gelesen, dass der Geist Gottes über diesem Zustand schwebte. Gottes Kraft ist also präsent – auch dann, wenn sie nicht unmittelbar ins Geschehen eingreift.

Ich denke, wenn wir das bisher Gesagte genau betrachten, kann sich daraus auch für heutige Menschen ein Sinn des Bekenntnisses ergeben. Chaos als bedrohliche Macht einerseits, Zustände ohne Ordnung, und andererseits die Ordnung, die von außen herbeigeführt wird – das sind auch für uns existenzielle Erfahrungen. Wenn wir das so sehen, kann das Bekenntnis zur schöpferischen Kraft Gottes auch für uns von Bedeutung sein. Denn, ob wir es zugeben wollen oder nicht – auch in unserem Leben gibt es allerlei Potenzial, das die Ordnung durcheinanderbringen oder gar zerstören kann.

Wenn wir an das persönliche Leben denken und an das, was wir mit dem Begriff „Wüstenzeiten“ umschreiben, so kann sich jede und jeder etwas darunter vorstellen. Was passiert, wenn die bisher gültige Ordnung des persönlichen Lebens auseinanderfällt? Dann bricht bei den meisten Menschen Unsicherheit aus. Wenn die bekannten Rahmen aufbrechen, dann drohen Chaos, Wüste – oder wie auch immer man diesen Zustand benennen möchte.

Gottes Kraft bedeutet in diesem Zustand Halt und Sicherheit. Vertrauen wir auf die ordnende Kraft des Schöpfers, so mögen chaotische Zustände im Leben zwar weiterhin präsent sein – aber das Wissen, dass Gottes Kraft da ist, weist ihnen ihre Grenzen.

Der Glaube an den Schöpfergott macht unser Leben nicht frei von allerlei „Wüstenzeiten“, aber er ermöglicht uns, daran nicht zugrunde zu gehen. Dieses Wissen kann uns heutigen Menschen immer wieder Kraft, Hoffnung – und ganz sicher auch Zuversicht schenken.

Ich habe das Beispiel schon öfter gebracht, aber vielleicht lohnt es sich, noch einmal daran zu erinnern: Am Rand des Fünffrankenstücks ist ein lateinischer Satz eingeprägt:

„Deus providebit“ – was so viel bedeutet wie: „Gott wird vorsorgen.“ Gottes schöpferische Kraft sorgt für seine Schöpfung – aber auch für uns persönlich. Wenn man sich auf diese Fürsorge Gottes verlässt, so bekennt man sich zu der bindenden Macht des Schöpfers, die allein fähig ist, allerlei chaotische Zustände im Leben zu ordnen – auch dann, wenn er nur so präsent ist, dass sein Geist über den chaotischen Zuständen des menschlichen Lebens schwebt.

Wenn man das weiß, dann kann man die diversen, verschieden gearteten „Wüstenzeiten“ des Lebens aushalten – mit dem Wissen, dass das letzte Wort nicht den lebensbedrohenden, chaotischen Mächten gehört, nicht dem „Irrsal und Wirrsal“, sondern Gottes ordnender, segnender Kraft, seiner Fürsorge im Leben.

Das wussten die Menschen des Alten Testaments – und mit diesem Wissen dürfen wir gegen allerlei „Wüstenzeiten“ im Leben ankämpfen.

Amen.

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