/Predigt gehalten in Mühlethal am 19. Sonntag nach Trinitatis, 26.10.2025/
[1] Einige Zeit später war wieder ein jüdisches Fest und Jesus zog nach Jerusalem. [2] Beim Schaftor in Jerusalem gibt es einen Teich mit fünf Säulenhallen. Auf Hebräisch wird dieser Ort Betesda genannt. [3] In den Hallen lagen viele Kranke, Blinde, Gelähmte und Menschen mit verkrüppelten Gliedern. [5] Dort war auch ein Mann, der seit 38 Jahren krank war. [6] Jesus sah ihn dort liegen und erkannte, dass er schon lange krank war. Da fragte er ihn: »Willst du gesund werden?« [7] Der Kranke antwortete: »Herr, ich habe keinen, der mich in den Teich bringt, sobald das Wasser in Bewegung gerät. Wenn ich es aber allein versuche, steigt immer ein anderer vor mir hinein.« [8] Da sagte Jesus zu ihm: »Steh auf, nimm deine Matte und geh!« [9] Im selben Augenblick wurde der Mann gesund. Er nahm seine Matte und ging. Der Tag, an dem dies geschah, war ein Sabbat. [10] Da sagten die Vertreter der jüdischen Behörden zu dem Geheilten: »Es ist Sabbat! Du darfst deine Matte nicht tragen!« [11] Er antwortete ihnen: »Der Mann, der mich geheilt hat, der hat zu mir gesagt: ›Nimm deine Matte und geh!‹« [12] Sie fragten ihn: »Wer ist das gewesen? Wer hat zu dir gesagt: ›Nimm deine Matte und geh!‹?« [13] Der Geheilte wusste es aber nicht. Denn Jesus war in der Menschenmenge verschwunden, die sich dort versammelt hatte. [14] Später traf Jesus den Mann im Tempel und sagte zu ihm: »Du bist gesund geworden! Lade keine Schuld mehr auf dich, damit dir nichts Schlimmeres geschieht.« [15] Der Mann ging weg und berichtete den jüdischen Behörden: »Es war Jesus, der mich gesund gemacht hat.« [16] Von da an verfolgten die jüdischen Behörden Jesus, weil er das an einem Sabbat getan hatte.(Johannes 5, 1-16)
Liebe Gemeinde,
Ein bewegender Moment im Leben von Jesus von Nazareth. Es ist ein Moment, in dem es klar wird, dass der Wunderrabbi von Nazareth nicht nur Freunde und Bewunderer hat. Er hat plötzlich Feinde, und zwar mächtige, listige Feinde, die alles daransetzen, ihn zum Schweigen zu bringen. Ich denke, das ist der Moment, in dem die Zeit wie für einen Moment stehen bleibt. Es wird klar: Es gibt Fronten. Es gibt Freunde und Feinde, und das Schicksal von Jesus von Nazareth scheint damit besiegelt zu sein.
Aber ist das alles? Ist das alles, was man heute von dieser alten Wundergeschichte sagen kann und sagen soll? Können wir das Ganze damit abschreiben, dass dies im Grunde nichts anderes ist als ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, dem man keine Bedeutung mehr beimessen kann und soll?
Sie merken, dass diese rhetorischen Fragen nur darauf hinweisen möchten, dass diese Geschichte aus dem Johannesevangelium doch sehr viel komplexer ist, als auf den ersten Blick angenommen. Es steckt doch einiges darin darüber, wer Gott ist und wie er mit uns Menschen umgeht, und zugleich auch der Hinweis, wie wir Menschen mit diesem Gott leben möchten. Um der aktuellen Bedeutung des Textes näherzukommen, scheint es mir zielführend, die Protagonisten dieser Geschichte anzuschauen.
Nun, als Erstes haben wir hier den Wunderrabbi von Nazareth. Der Sohn Gottes, der als Mensch auf dieser Erde wandelte, der den Menschen seiner Zeit die Liebe und Nähe Gottes brachte. Jesus, der wahre Mensch, der im Auftrag seines himmlischen Vaters unterwegs ist. Der Evangelist beschreibt mit knappen Worten die Umstände, die diese Begegnung am Schafstor bestimmen. Jesus hat einen klaren Auftrag und auch ein Ziel vor Augen. Er ist aber jemand, der mit sehenden Augen durchs Leben geht und deshalb die Menschen wahrnehmen kann, die dort am Schafstor versammelt sind. Ich denke, diese Wachsamkeit Jesu ist es, was diese Geschichte heute für uns interessant macht. Er geht mit sehenden Augen und sieht nicht nur das, was er sehen möchte, sondern das, was tatsächlich ist. Darin unterscheidet er sich ganz grundsätzlich von uns Menschen.
Ich denke an unseren Alltag. Wie oft kommt es vor, dass wir anderen Menschen begegnen oder andere Menschen uns begegnen, aber sehen wir uns wirklich? Sehen und jemanden wirklich ansehen sind nämlich zwei verschiedene Dinge. Jesus sieht den Menschen an. Es ist ihm nicht zu schade stehen zu bleiben, sich Zeit zu nehmen für den Anderen. Gottes Sohn hat Zeit für den Menschen.
Inmitten vieler To-do-Listen und voller Terminkalender lohnt es sich, uns selber die Frage zu stellen, wie es mit uns diesbezüglich steht. Wieviel Zeit sind wir bereit uns zu nehmen für unsere Mitmenschen, aber auch für uns selbst? Ich denke, die Tatsache, dass Jesus inmitten seines Weges zur Erfüllung einer heiligen Pflicht stehen bleibt und sich Zeit nimmt für den Menschen, gibt uns einiges zu bedenken.
Einer der meistgehörten Sprüche in unserem Leben ist möglicherweise der Satz: «Ich würde gerne …, habe aber leider keine Zeit.» Jesus zeigt uns in dieser Geschichte, dass es funktionieren kann, dass es wichtig und geradezu unerlässlich ist, sich Zeit zu nehmen – für die Mitmenschen und irgendwo auch für uns selbst. Es ist anzunehmen, dass Jesus zu einem Fest nach Jerusalem geht, es ist ja die religiöse Pflicht eines frommen Menschen, zu Gott zu beten, und ganz besonders an Feiertagen. Und dennoch, er nimmt sich Zeit und setzt damit ein Zeichen der Liebe und Geduld Gottes in der Welt.
Anderseits haben wir den Kranken, der sich an die winzig kleine Hoffnung klammert, es könnte doch etwas geschehen, es könnte doch sein, dass er eines Tages gesund wird. Möglicherweise hat er aber auch schon alles aufgegeben. Seine Worte an Jesus deuten dies an. Er ist dort, wo er ist, weil er nirgendwo mehr hingehen kann. Er hat weder die Kraft noch die Möglichkeit, allein etwas an seiner elenden Situation zu ändern. So sitzt er dort und wartet.
Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber es gibt kaum etwas im Leben, das ich so ungern tue wie das Warten. Geduld ist eine Tugend, die oft schwer zu erlernen ist. Nun, unsere Geschichte berichtet uns davon, dass dieser Mann das Warten wirklich und wahrhaftig erlernt hatte. Wohl oder übel, aber er hatte keine andere Chance, als zu warten. Genau dies ist die Situation, in der Jesus ihn anspricht. Ich meine, in dieser Angesprochenheit, in dieser Anrede den Moment der Wende beobachten zu können.
In dem Moment, in dem der Mann angesprochen wird, passiert nämlich etwas Entscheidendes: Er ist nicht mehr nur einer von vielen, nur jemand, der hoffnungslos dasitzt oder liegt und auf ein Wunder hofft. Er wird zu jemandem, der zumindest für einen Moment, für diesen einen Moment als Individuum wahrgenommen wird. Er ist nicht mehr nur einer von den Vielen, sondern wird plötzlich zu jemandem.
Wir leben in einer Welt, in der dem Individuellen sehr viel Wert beigemessen wird. Wir wollen alle individuell sein. Wenn dies nicht so gelingt, wie wir das möchten, stehen wir oft ratlos da. Für mich steht dieser gelähmte Mensch stellvertretend für viele Situationen im Leben, in denen wir uns wie gelähmt fühlen. Manchmal hat man den Eindruck, dass es gar nicht möglich ist, aus einer Situation herauszukommen und wieder Luft zu holen.
Der Gelähmte am Teich beim Schafstor steht für mich für ganz viele Situationen im Leben. So verschieden sie auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen, dass sie uns die Kraft rauben und geradezu lähmend wirken können. Ich denke, jeder und jede von uns kennt solche Situationen im Leben. Plötzlich steht man da, wie gelähmt, mitten unter den Menschen, aber irgendwie doch abgeschnitten von ihnen. Mitten unter Menschen, die leben und lachen und miteinander unterwegs sind, und dennoch wie gelähmt.
Die körperliche Lähmung steht für mich als Sinnbild für viele belastende und verzerrende Situationen im Leben. Die Geschichte zeigt uns exemplarisch, dass es oft nur wenig braucht, damit sich etwas im Leben eines Menschen ändert. Aber dieses Wenige kann nicht von uns herbeigeführt werden, es muss von aussen her kommen. Es beginnt damit, dass der Mensch sich bewusst macht, welchen Wert er im Leben hat.
Der Gelähmte am Teich beim Schafstor hat so lange mit seiner Lähmung gelebt, dass er gar nicht mehr darauf gehofft hatte, etwas daran ändern zu können. Er hatte nicht mehr darauf gehofft, etwas Gutes im Leben zu erleben, geschweige denn, dass er seinen Platz im Leben findet. Das Wort von Jesus bewirkt Wunder.
Das Wunder in dieser Geschichte ist für mich zunächst nicht, dass der Gelähmte geheilt wird. Das Wunder für mich ist, dass das Wort von Jesus ihm Raum schafft, um frei atmen zu können. Er wird wahrgenommen, nicht nur als einer der Vielen, die in einer ähnlichen Situation sind, sondern er als Mensch mit ganz eigenen Hoffnungen und Träumen. Schon allein die Frage von Jesus eröffnet einen Raum, in dem dieser Mensch sein kann.
Ich denke, das müssen wir uns gerade im Hinblick auf unsere menschlichen Beziehungen sehr zu Herzen nehmen. Fragen, die vom Interesse zeugen, die einen Raum zum freien Atmen für andere eröffnen, sind auch heute noch lebenswichtig. Der Gelähmte kann plötzlich seine Sehnsucht artikulieren und auf die Frage «Willst du gesund werden?» antworten.
Wir haben aber auch andere Protagonisten in der Geschichte, die nicht einmal namentlich erwähnt werden, die aber prominent in der Geschichte auftauchen: die Vertreter der jüdischen Behörden. Sie tauchen auf und wollen den Ist-Zustand bewahren. Bevor wir uns schnell von ihnen distanzieren, denken Sie doch daran, wie oft es uns auch ähnlich geht: Wir wollen nur das bewahren, was jetzt gerade ist – koste es, was es wolle. Sie haben vielleicht Angst vor Veränderungen, vielleicht wollen sie aber nur ihre Ruhe haben. So oder so, sie stellen sich gegen den Störenfried Jesus.
Der Evangelist verschönert nichts, sondern macht deutlich, dass etwas Dramatisches geschieht, das das Leben vieler Menschen beeinflussen wird. Jesus geht seinen Weg weiter, und auch der geheilte Mensch geht weiter. Ob diese Geschichte etwas Dauerhaftes verändert hat, weiss ich nicht, aber die befreiende Botschaft der Geschichte bleibt auch heute deutlich: Wir dürfen damit rechnen, dass Gott auch uns Lebensraum zum Aufatmen schenkt.
Dietrich Bonhoeffer hat es in einem seiner Gedichte folgendermassen geschrieben:
«Menschen gehen zu Gott
in ihrer Not,
flehen um Hilfe,
bitten um Glück und Brot,
um Errettung aus Krankheit,
Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle,
Christen und Heiden.
Menschen gehen zu Gott
in seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht,
ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde,
Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott
in seinem Leiden.
Gott geht zu allen Menschen
in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele
mit seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden
den Kreuzestod,
und vergibt ihnen beiden.»
(Dietrich Bonhoeffer: Karfreitag)
Die Bewegung Gottes zu uns Menschen ist keine Vergangenheit. Der Raum zum Aufatmen ist nichts Altmodisches, nichts, das aus der Mode gekommen wäre. Sie ist auch heute noch aktuell.
Amen.

