/Predigt gehalten in der Stadtkirche Zofingen am Sonntag Exaudi, am 01.06.2025/
Darum beuge ich meine Knie vor dem Vater, von dem jedes Geschlecht im Himmel und auf Erden seinen Namen empfängt, und bitte ihn, euch nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit durch seinen Geist zum Aufbau des inneren Menschen so mit Kraft zu stärken, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen Wohnung nimmt und ihr in der Liebe tief verwurzelt und fest gegründet seid.
So werdet ihr befähigt, mit allen Heiligen zusammen die Breite und Länge und Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu erkennen, die alle Erkenntnis übersteigt, und so werdet ihr immer mehr erfüllt werden von der ganzen Fülle Gottes.
Ihm aber, der weit mehr zu tun vermag, als was wir erbitten oder ersinnen, weit über alles hinaus, wie es die Kraft erlaubt, die in uns wirkt, ihm sei die Ehre in der Kirche und in Christus Jesus durch alle Generationen dieser Weltzeit hindurch bis in alle Ewigkeit, Amen.
(Eph. 3:14-21)
Liebe Gemeinde,
Am heutigen Sonntag hören wir einen Predigttext, der sich so schön kirchlich anhört, dass man am liebsten spontan „Ja und Amen“ dazu sagen möchte. Es klingt wahr, es klingt schön – und schliesslich ist es etwas, an das wir uns gewöhnt haben. Aber… Unsere Frage heute ist: Was fangen wir mit diesem wohlklingenden Wort aus der Bibel an? Was können wir heute und hier damit anfangen, dass der Verfasser eines alten Bibeltextes so – und nicht anders – von Gott und seiner Gegenwart spricht?
Wenn wir die eben gehörten Bibelworte betrachten, fällt auf: Es handelt sich um ein Gebet. Es ist ein Gebet, in dem Gott in der Form einer Fürbitte für die Gemeinde angeredet wird. Lassen wir diese Worte schlicht auf uns wirken, so entsteht der Eindruck, dass es sich um ein besonderes Gebet handelt. Doch was ist das Besondere daran?
Als Erstes fällt auf, dass der Verfasser schon zu Beginn des Gebets eine demütige Haltung einnimmt. Er leitet sein Gebet mit den Worten ein: „Ich beuge meine Knie.“ Für uns mag das heute weniger bedeutungsvoll erscheinen, doch für die damalige Hörerschaft war klar: Das Kniebeugen ist ein Zeichen grosser Demut. Die Frage stellt sich: Ist eine solche Haltung wirklich notwendig? Kann man nicht auch anders beten – aufrechter, weniger demütig?
Für den Verfasser unseres Predigttextes steht fest: Es geht gar nicht anders. Er begründet dies damit, dass sein Gebet an den Gott gerichtet ist, der der Vater aller Generationen auf Erden ist. Im griechischen Urtext findet sich hier ein Wortspiel, das sich im Deutschen kaum wiedergeben lässt. Gemeint ist: Gott ist der Ursprung aller Geschlechter auf Erden.
Im Alten Orient hatten Namen eine besondere Bedeutung. Oft nahmen befreite Sklaven den Namen ihres ehemaligen Herrn an – als Zeichen der Demut und Verehrung. Der Name war Ausdruck einer besonderen Beziehung. Bis heute ist davon etwas erhalten geblieben: Kinder tragen noch immer die Namen ihrer Eltern oder Grosseltern. Der Name verdeutlicht Beziehung. Wenn der Verfasser des Briefes sagt, dass alle Sippen der Erde ihren Namen von Gott empfangen haben, dann deutet er damit einen besonderen Zusammenhang zwischen Gott und seiner Schöpfung an – einen Zusammenhang, der zu beachten ist, wenn man über den Menschen spricht.
Was bedeutet das aber konkret?
Schauen wir uns um, sehen wir, wie viel Zeit und Energie Menschen in ihre Selbstdarstellung investieren. In einer Welt, die zunehmend von Medien und Bildern geprägt ist, versucht der moderne Mensch, sich selbst ins rechte Licht zu setzen. Dabei ist ihm fast jedes Mittel recht. Die Botschaft, die dabei mitschwingt, ist eindeutig: Ich bin es, der sein Leben meistert. Ich bin es, der auf alles eine Antwort weiss. Das „Ich“ im Mittelpunkt!
Diese Selbstinszenierungen sind nicht per se schlecht. Wir Menschen sind so geschaffen, dass wir unser Leben gestalten und darstellen wollen. Dass es dabei zu Konflikten und Problemen kommt, zeigt uns die Bibel an vielen Stellen deutlich. Doch wir müssen gar nicht so weit blicken – auch in unserem persönlichen Umfeld finden wir genug Beispiele. Und wie steht es mit unserem eigenen Leben?
Wenn wir diese Frage ernst nehmen, gibt uns die demütige Haltung des Verfassers unseres Predigttextes einen wichtigen Hinweis. Wer weiss, dass er nicht alles neu erfinden muss, sondern Teil einer langen Reihe ist, zeigt nicht nur Demut gegenüber dem Schöpfer, sondern gewinnt auch innere Freiheit. Diese Freiheit liegt darin, dass der Mensch seinen Platz kennt – nämlich nahe bei Gott. So kann er dem Drang widerstehen, sich selbst zum Mittelpunkt der Welt zu machen.
Seien wir realistisch: Selbstinszenierung gehört zum Menschsein. Die entscheidende Frage ist aber, wie viel Raum wir ihr in unserem Leben geben. Unser Predigttext traut uns zu, dieser Versuchung zu widerstehen. Wenn wir das schaffen, gewinnen wir die Freiheit, die Welt mit anderen Augen zu sehen.
Und genau um dieses „andere Sehen“ geht es im Predigttext. Der „innere Mensch“ soll in der Liebe Gottes tief verwurzelt sein. Ein interessantes, ja fast befremdliches Bild – vor allem, wenn man bedenkt, dass diese Liebe in ihrer Breite, Länge und Tiefe beschrieben wird. Ist die Liebe Gottes ein Kubus?
So klingt es zumindest. Doch betrachtet man die demütige Haltung des Beters im Hintergrund, wirkt dieses Bild gar nicht so abwegig. Ein Kubus ist ein klar definierter Raum. Übertragen auf die Liebe Gottes ergibt sich daraus ein Raum der Liebe, in dem der Mensch verwurzelt sein soll. Und das ist ein Bild, mit dem ich etwas anfangen kann: Ein Raum der Liebe Gottes, in dem wir einen festen und sicheren Platz haben. Wie notwendig ist ein solcher Raum! Denn die Räume unserer Gesellschaft sind oft alles andere als von Liebe und gegenseitigem Verständnis geprägt.
Da tut es gut, daran erinnert zu werden: Jesus Christus stellt uns durch sein Leben und Wirken einen anderen Raum zur Verfügung – einen Raum, in dem der Mensch sich respektiert und geliebt erleben darf. Einen Raum, in dem er frei sein kann von Selbstinszenierungszwängen. Gottes geliebte Kinder sind wir. Wir sind berufen, seine Liebe zu erleben und – so weit es an uns liegt – weiterzugeben.
Der Raum der Liebe ist aber kein statischer oder klar abgegrenzter Ort. Er ist lebendig – er will erlebt und durch unser Zutun verwirklicht werden. Genau dafür betet der Verfasser des Briefes. Man könnte es auch so sagen: Der Glaube an Gottes Liebe führt zu einer bestimmten Lebenshaltung. Diese Lebenshaltung wiederum eröffnet uns einen Raum, in dem unsere Persönlichkeit sich entfalten kann. Je klarer uns das wird, desto deutlicher wirkt es sich auf unser Leben aus. Genau darauf deutet die Formulierung „Verwurzelung in der Liebe“ hin.
Wer – im Sinne unseres Predigttextes – in der Liebe verwurzelt ist, kann darauf vertrauen, dass sein Leben ein tragfähiges Fundament hat. Und solch ein Fundament brauchen wir alle. Die Liebe, von der hier die Rede ist, ist etwas, das das Leben ausfüllen und erfüllen kann. Geliebt zu werden gehört zu den tiefsten Bedürfnissen des Menschen. Um geliebt zu werden, tun wir oft sehr viel. Und hier wird uns eine unbedingte Liebe zugesichert – eine Liebe ohne Wenn und Aber. Eine Liebe, die unser Leben wirklich bereichern kann.
Im Raum der Liebe Gottes gibt es keine leeren Räume, keine Zonen, in denen Angst, Furcht und Bedrohung unkontrolliert wachsen können. Im Raum der Liebe Gottes hat Gott das letzte Wort im Leben des Menschen – wahrhaftig und endgültig.
Doch stellt sich zu Recht die Frage: Warum ist das so, wenn doch auch Christinnen und Christen unter Angst und Bedrängnis leiden? Müsste Gott im Raum seiner Liebe nicht dafür sorgen, dass all das aus unserem Leben verschwindet?
Wenn wir den Predigttext genau lesen, merken wir: Der Raum der Liebe Gottes zwingt niemanden zu etwas. Es geht nicht um einen Kampf, nicht um die Eroberung einer Bastion des freien Geistes. Es geht um einen Prozess, um ein Wachsen, ein Reifen. Dieser Prozess will ernst genommen werden.
Ja, Ängste und Sorgen gehören zum menschlichen Leben. Doch durch die Liebe Gottes bekommen wir die Möglichkeit, sie besser zu ertragen.
Oft wissen wir nicht, was wir in bestimmten Momenten wirklich brauchen. Deshalb gilt die Fürbitte unseres Predigttextes auch uns:
„Ihm aber, der weit mehr zu tun vermag, als was wir erbitten oder ersinnen – weit über alles hinaus, wie es die Kraft erlaubt, die in uns wirkt –, ihm sei die Ehre in der Kirche und in Christus Jesus durch alle Generationen dieser Weltzeit hindurch bis in alle Ewigkeit. Amen.“