Was ist der Mensch?

/Predigt gehalten in der Kirche Vordemwald am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, 16.11.2025/

[1] Was ist der Mensch, von einer Frau geboren? Sein Leben ist kurz und doch voller Unruhe.

[2] Wie eine Blume blüht er auf und wird abgeschnitten. Wie ein Schatten flieht er und bleibt nicht hier.

[3] Trotzdem richtest du deine Augen auf ihn und gehst mit ihm ins Gericht.

[4] Gibt es einen Menschen, der von Geburt an rein ist? Es gibt keinen einzigen!

[5] Darum sind seine Tage begrenzt, die Zahl seiner Monate steht fest.

Du hast seinem Leben eine Grenze gesetzt, die kann er nicht überschreiten.

[6] Darum schau weg und lass ihn in Ruhe! Lass ihm doch das bisschen Lebensfreude wie einem Tagelöhner, der nach der Arbeit ruht.

[13] Ach, wenn ich mir doch wünschen könnte, dass du mich eine Weile in der Unterwelt versteckst! Halte mich verborgen, bis dein Zorn vorbei ist!

Und wenn es so weit ist, denk wieder an mich!

[15] Du würdest mich rufen und ich dir antworten. Du würdest dich wieder freuen an deinem Geschöpf.

[16] Stattdessen überwachst du meine Schritte. Keinen einzigen Fehltritt siehst du mir nach.

[17] Für jedes Vergehen kommt ein Steinchen in den Beutel, so sammelst du meine Schuld und bewahrst sie auf.

(Hiob 14,1-6.13.15-17)

Liebe Gemeinde,

Ach, lass mich mal in Ruhe, Gott – könnten wir die Aussage dieses Textes kurz und prägnant zusammenfassen. Lass mich in Ruhe, denn ich kann eh nicht gerecht vor dir werden. Lass mich in Ruhe, denn ich kann dir gegenüber niemals gewinnen. All diese Sätze sind wahr und sind ein Stück weit auch die Zusammenfassung dessen, was diese biblischen Worte beinhalten. Eigentlich ist es richtig befreiend, so etwas zu hören: Sogar ein Mann Gottes, ein Frommer, hat mal genug von Gott. Und trotzdem, es bleibt ein irgendwie ungutes Gefühl dabei zurück: Ist denn das wirklich alles, was von dem Menschen gesagt werden kann? – fragen wir uns heute, und ich meine, wir fragen dies mit Recht.

Der grosse Arthur Schopenhauer, der als Philosoph nicht sehr viel von seinen Mitmenschen und vom Menschen im Allgemeinen hielt, meinte, der erste Satz unseres heutigen Predigttextes sei ein Meisterstück dafür, wie ewige Wahrheiten mit ganz einfachen Mitteln formuliert werden können. Nun, wie auch immer, ich meine, es lohnt sich, einen Schritt zurückzutreten und so danach zu fragen, was denn der Inhalt dieser Bibelverse uns sagen kann und will, so ganz am Ende des Kirchenjahres.

Ein ganz und gar nicht optimistisches, gar ein allzu pessimistisches Bild kommt uns aus dem Bibeltext entgegen, wenn es um die Frage geht, was denn der Mensch eigentlich sei. Der Mensch und das Leben des Menschen ist vergänglich und voller Unruhe. Ich denke, es lohnt sich, an diesem Punkt stehen zu bleiben und danach zu fragen, was denn dies bedeuten soll. Dass das Leben des Menschen vergänglich ist, ist allen klar, die sich ernsthaft mit dem Leben beschäftigen. Es gibt kein Leben auf ewig für uns Menschen, egal, wie wir uns in unseren Bemühungen anstrengen. Lesen wir diese Aussage im Kontext des Hiobbuches, so bekommt dies eine ganz besondere Brisanz. Es geht plötzlich um viel mehr als um die Feststellung einer Tatsache. Es geht darum zu sehen, dass das menschliche Leben mit allem Schönen, aber mit allen schweren und dunklen Seiten endlich ist. Einmal ist es vorbei. Es gibt einen Anfang und es gibt ein Ende des Lebens. Man muss sich nicht ewig mit den Herausforderungen im Leben abmühen. Einmal kann man das Ende in Ruhe akzeptieren. In meiner seelsorgerlichen Praxis treffe ich immer wieder auf Menschen, die mit einer bemerkenswerten Gelassenheit diese Endlichkeit des Lebens akzeptieren.

Was Hiob hier anklagend oder feststellend, aber auf jeden Fall deutlich zum Ausdruck bringt, ist etwas, was der moderne Mensch mühsam wieder erlernen muss. Es gibt eine Kunst des Lebens, aber es gibt auch eine Kunst des Loslassens. Im Mittelalter sprach man von der «Ars moriendi», von der Kunst des Sterbens. Dazu gehörte auch die Erkenntnis, dass das Leben von uns Menschen von Beginn an endlich ist. Dies zu akzeptieren bedeutete eine Quelle der Gelassenheit damals – und vielleicht auch heute? Nun, dieser Erkenntnis von der Endlichkeit des Lebens steht die Erkenntnis gegenüber, dass das Leben voller Unruhe ist. Interessant ist es, wenn wir das hierfür verwendete Wort im ursprünglichen sprachlichen Kontext anschauen. Dort bedeutet der Begriff nicht nur Unruhe, sondern Aufregung oder Durcheinander, und er hat auch eine spezielle Verwendung für unruhige, tänzelnde Pferde. Wie dem auch sei, die Unruhe ist etwas, was das Leben des Menschen von vornherein bestimmt.

Ich denke, das dürfen wir auf keinen Fall ausser Acht lassen, wenn wir über das Leben des Menschen im Allgemeinen, aber auch über unser eigenes Leben nachdenken. Der moderne Mensch macht alles, um diese zu unserer Geschöpflichkeit gehörende Unruhe zu minimieren bzw. zu eliminieren. Wir organisieren unser Leben so, dass möglichst alles geplant und vorgeplant ist. Falls unsere Planung nicht aufgeht, geraten wir oft in Sorge. Der Verfasser des Bibeltextes weiss, dass eine grundsätzliche Unruhe zum Leben des Menschen dazugehört, weil wir Menschen nicht perfekt sind. Es gibt keinen einzigen Menschen, der von Geburt an rein wäre, meint der heutige Predigttext, und richtet unsere Aufmerksamkeit darauf, was wir alle gemeinsam haben. Wir sind bei Weitem nicht perfekt.

Auch wenn diese Aussage sich ursprünglich darauf bezieht, dass der neugeborene Mensch kultisch unrein ist, drückt doch diese Aussage etwas davon aus, was wir als unseren innigsten Wunsch in uns hegen: Wir möchten gerne perfekt sein. Im Altertum wurde dieser Sachverhalt mit der kultischen Reinheit beschrieben. Wer rein war, war perfekt; er konnte mit dem Schöpfer ein ganz besonderes Verhältnis pflegen. Nun, aus dieser Gleichnis ist in der modernen Welt ganz oft oder gar meistens Gott gestrichen worden, aber «rein», also perfekt, möchte auch der moderne Mensch sein. Die diversen Selbstoptimierungsmöglichkeiten in der modernen Welt zielen genau darauf hin: die grundsätzliche Unruhe im Leben zur Ruhe zu bringen, zu minimieren und möglichst perfekt zu sein oder zumindest dieses Bild nach aussen zu vermitteln.

Der Verfasser des Predigttextes weiss um diese menschliche Sehnsucht. Deshalb benennt er unmissverständlich die Grenzen des menschlichen Lebens, Grenzen, welche von uns nicht überschritten werden können. Das Bild vom tänzelnden und unruhigen Pferd steht für mich für so manche Situation des Lebens, in denen wir versuchen, mit einer Situation klarzukommen. Unser Predigttext mit der klaren und unmissverständlichen Botschaft öffnet unsere Augen darauf, dass es vielleicht wirklich möglich ist, diese Unruhe und die Endlichkeit des Lebens zu akzeptieren.

Hiob tritt Gott unverblümt entgegen und fordert Ruhe für den Menschen. Der angefochtene Mensch möchte nur in Ruhe gelassen werden, und genau dies wird ihm nicht gewährt. Das Bild vom Tagelöhner bringt diesen Sachverhalt deutlich zum Ausdruck. Es geht darum zu sehen, dass der Tagelöhner immer für eine bestimmte Zeitspanne und für eine bestimmte Arbeit angestellt war. Wenn diese Arbeit erledigt war, konnte er weiterziehen und sich eine neue Aufgabe suchen. Hingegen hatten die fest angestellten Knechte eine klare Aufgabe, aber auch die Verantwortung für ihre Aufgaben. Der Verfasser des Predigttextes knüpft an die Endlichkeit und Ruhelosigkeit des Lebens an. Er fordert die kurzweilige Lebensfreude, welche ein Tagelöhner hat, für sich selber. Aus dem Kontext wird klar, dass genau dies nicht gehen wird. Der Schöpfer entlässt sein Geschöpf nicht aus der Verantwortung; vielmehr fordert er diese Verantwortung in der Beziehung zu ihm ein.

In der Schriftlesung haben wir eine andere Geschichte, eine aus dem Neuen Testament gehört. Dort ging es auch um Planung und Verantwortung und darum, dass man diese Verantwortung nicht ablegen kann. Der Mensch muss bereit sein, selber zu denken und eigenständig Entscheidungen zu fällen, denn dies gehört zum Menschsein dazu. Eigenverantwortung also als ein Grundstein des menschlichen Lebens, von dem wir nicht befreit werden?

So sehr Hiob mit Gott hadert, er kann nicht anders, als darum zu bitten, dass Gott seiner nicht vergesse. Das Geschöpf kann sich vom Schöpfer nicht frei machen. Es gehört zum Menschsein, dass der Mensch als Geschöpf Gottes trotz der Endlichkeit des Lebens, trotz allerlei Unruhen nicht anders kann, als sich daran zu klammern, dass Gott ihn nicht vergisst.

Ich denke, das ist für uns alle ein tröstliches Wissen. Gott gedenkt des Menschen und sieht uns trotz mancherlei Unruhen im Leben. Hiob weiss, dass Gott letztendlich auf seiner Seite bleibt, auch dann, wenn momentan sein Leben von einer grundsätzlichen Dunkelheit bestimmt ist. Dieses Wissen gibt ihm Halt und hilft ihm auszuhalten, was er auszuhalten hat. Carl Friedrich von Weizsäcker hat dies sehr treffend zusammengefasst: «Die tiefste Erfahrung von sich selbst, zu der der Mensch in seiner Natur und in der Gesellschaft vordringt, lautet nicht Freiheit, sondern Ohnmacht. Die tiefste Erfahrung vom Gelingen menschlichen Lebens ist nicht eine Erfahrung von eigener Macht, sondern Gnade. Die tiefste Erfahrung des Menschen ist nicht der Mensch, sondern Gott.»

Hiob hat dies gewusst. Vielleicht dieses Wissens auch für uns, auch heute noch eine Möglichkeit, mit den diversen Herausforderungen im Leben leben zu können?

Amen

Leave a Reply

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert